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Die dunkle Seite des Mondes (German Writing)

Die dunkle Seite des Mondes
(Mein Opa Wilhelm)
(German Writing)
Die dunkle Seite des Mondes
Mein Opa sagte einmal zu mir die Einsamkeit der ganzen Welt würde sich auf der dunklen Seite des Mondes sammeln. Und eben deshalb könne man sie zwar nicht sehen, aber doch fühlen. Und weil das nun einmal so sei mit der Einsamkeit, mit ihr und den Menschen, müsse man einander immer ganz genau in die Gesichter, und Augen blicken. Man müsse darin aber nach eben jenem suchen, das man nicht sehen, sondern nur spüren kann. Ein wenig so, wie wir manchmal auch auf das Meer und die Gezeiten hinaussehen, um vom Mond zu erfahren. Und überhaupt seien Gefühle doch wie das Meer, die Einsamkeit hinter unseren Augen ebenso endlos und weit. Bis zum Horizont, und manchmal auch darüber hinaus. Gleich, ob unserem, oder dem von allem.

Als er das zu mir sagte, mein Opa, hatte ich es nicht verstanden, viel zu jung wie ich damals war, vermutlich kaum älter als zehn Jahre. Zu jung, um zu verstehen, dass das, was ich da längst in meinem Inneren fühlte, von den Erwachsenen für gewöhnlich Einsamkeit genannt wird. Ich rätselte, was er meinte und ob er es vielleicht nicht doch nur zu sich selbst gesagt hatte. Ein Gedanke, vielleicht als Gefühl, verpackt, der ihm für einen Moment in den Sinn gekommen war. Vielleicht hatte all das auch Jahre in ihm gelegen, tief im Verborgenen, bis es dann schließlich unerwartet nach draußen kam, er vielleicht selbst überrascht war angesichts seiner eigenen Worte. Vielleicht aber hatte er es auch gar nie gesagt; und ich mir all die Jahre nur eingebildet, in denen ich nach meiner Kindheit suchte. Fragmente. Und überhaupt, was hatte ich als Kind schon gewusst. Von der Einsamkeit, von ihm, oder dem Leben. Später, nach unzähligen Jahren, fing ich dann plötzlich an, nach Gründen zu suchen. Und wenn wir sie finden, manchmal zumindest, dann geht das mit etwas Glück auch mit Worten einher. Worte für das, was damals gewesen war. Momente bekommen plötzlich Namen, werden zuordenbar, mal einer Zeit, mal einem bestimmten Menschen. Aber selbst, wenn wir sie dann finden, die Gründe, oder wenigstens glauben, sie gefunden zu haben, scheinen es meist doch keine Antworten auf das zu sein, was uns insgeheim umtreibt.

Er war längst verstorben, als ich mich dafür zu interessieren begann, wer er eigentlich gewesen war, mein Opa. Er, an den ich nur sehr wenige Erinnerungen habe, die eingangs geschilderte vielleicht noch die lebhafteste ist. Als einen ruhigen, etwas in sich gekehrten Mann habe ich ihn in Erinnerung. Einer, der mit verschränkten, kräftigen Armen am Wohnzimmertisch bei einer Tasse Kaffee sitzt, meist den Worten der anderen lauscht, zwar manchmal lacht und weise lächelt und doch nur selten das Wort ergreift. Und wenn er heute noch leben würde, oder ich früher zu dem geworden wäre, der ich heute bin, dann würde ich ihn vielleicht jetzt besuchen und nach seinem Leben fragen. Und auch, ob er glücklich gewesen ist, früher wie später. Zumindest wünsche ich mir, dass ich das dann getan hätte. Manchmal im Leben, scheint es einfach seine Zeit zu dauern, bis man zu sich selbst findet. Und wenn wir Glück haben, großes Glück, dann geschieht das bei Zweien zur gleichen Zeit und wir gehen ein Stück des Weges gemeinsam. Aber weil er nicht mehr ist, mein Opa, muss ich mich selbst und andere fragen, wer er wohl gewesen ist und was er zu mir gesagt hätte, wenn ich nun, vielleicht an einem etwas regnerischen Samstagnachmittag, vor ihm gestanden hätte, etwas nervös und gespannt, wie es sein wird über meinen Schatten zu springen.

In meiner letzten Erinnerung hatte meine Mutter mir die Aufgabe übertragen, ihn und seine Frau für ein kleines Familienfest, das bei uns Zuhause stattfinden sollte, mit dem Auto abzuholen. Meine Großmutter auf dem Beifahrersitz, er auf dem Rücksitz, ich weiß nicht, ob auf ihrer oder meiner Seiten. Beim Anschnallen hatte ich ihm etwas helfen müssen und wenn ich, bereits unterwegs, vereinzelt im Rückspiegel in sein Gesicht blickte, sah er glücklich darin aus. Er lächelte, aus dem Fenster und in die Ferne sehend. Die Ferne, die zeitlebens seine Heimat gewesen war auch wenn ich nicht weiß, ob es das war, was er sah. Und er sang ein wenig, ich weiß nicht mehr, ob nur Melodie oder auch Lied. Demenz, hatte man mir verraten, doch schien er, anders als die meisten in meinem Umfeld, zufrieden mit sich und der Welt zu sein. Und als er starb, Wochen oder Monate später, nahm ich es nicht schwer, hatte ich ihn doch in dieser Erinnerung. Er, im Rückspiegel zufrieden aus dem Fenster auf seine Heimat sehend. Vielleicht war er auch erst so geworden, nachdem er sein Leben vergessen hatte.

Jahre später trug es mich, scheinbar zufällig, wieder vermehrt an den wenigen Orten vorüber, an denen wir früher einmal gemeinsam unterwegs gewesen waren. Früher, als ich Kind und mein Opa einfach nur ein Opa war. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und bei einem meiner Streifzüge erinnerte mich daran, dass wir, ganz in der Nähe, an einem sonnigen Frühlingstag gute Bekannte von ihm auf ihrem Hof besucht hatten, um ein Schwätzchen zu halten und vielleicht auch etwas der Hoferzeugnisse zu besorgen. Weiter erinnerte ich mich, dass hier auch irgendwo, weiter hinten, tief im Wald, ein kleiner Waldenteich versteckt sein müsste. Jener Teich, zu dem er meine Schwester und mich einmal zielsicher zwischen den Bäumen hindurchgeführt hatte. Dort, von Schilf und Wald eingeschlossen, hatten wir auf einem etwas baufälligen Angelsteg eine Raupe beobachtet, die gerade bei unserem Auftreten zu einer Libelle wurde. Während wir Kinder, den Atem anhaltend, gespannt beobachten, sagte er uns, dass das etwas ganz Seltenes und Besonderes sei. Er, der als Forstarbeiter Jahre seines Lebens in diesen Wäldern verbracht hatte, musste es wissen, sagten wir uns. Uns Kindern hätte er nichts Besseres sagen können, ist es doch ungemein wichtig Natur gemeinsam zu erleben, die kleinen, besonderen Dingen darin zu suchen und miteinander zu teilen.

Im vergangenen Sommer entschied ich rasch nach diesem Ort meiner Kindheit zu suchen. Ich organisierte mir Karten, kreiste ein und erkundete das Gebiet schließlich mit dem Rad, und zu Fuß. Nach wenigen Ausflügen fand ich ihn, den Teich, der für mich der Waldenteich blieb, schließlich, gar nicht weit entfernt eines Weges und des Tales, durch das ich in der Vergangenheit schon des Öfteren gekommen war. Ich stand dort, in der Vormittagssonne alleine am Ufer, und fragte mich, wieso so viele Jahre vergehen mussten, bis ich hierher zurückgekehrt war. Ich hatte die Erinnerung aus den Augen verloren, wie uns das manchmal auch mit den Menschen passiert, für die wir doch eigentlich so sehr empfunden hatten. Und auch wenn ich zu einem Waldenteich zurückkehren kann, gelingt mir das mit den Menschen leider viel zu selten, oder gar nie.

Im Sommer desselben Jahres begann ich häufiger meinen Onkel und meine Tante zu besuchen. Eines Nachmittags saßen er und ich auf einer verwitterten Bank in ihrem Garten, der Bach nebenan, ein dichtes Blätterdach knapp über unseren Köpfen. Um uns herum, Haselsträucher mittlerweile groß wie Bäume, dazwischen Wege, die man längst nur noch tief geduckt gehen konnte, um darin zu verschwinden. Sie freute sich ebenso über meinen Besuch und brachte uns ein Vesper nach draußen, das sie in einer Schubkarre, die unweit von uns beiden stand, Stück für Stück stapelte. Die neugierigen Nachbarskinder scheuchte sie schließlich mit den Worten fort, dass wir ein Männergespräch zu führen hätten. Er, mein Onkel, schien melancholisch gestimmt zu sein. Ich erzählte ihm, Pessoa hätte einmal gesagt, dass wir, die wir träumen und denken, Buch führen würden und das unsichtbare Saldo immer gegen uns spräche. Und so sprachen wir ein wenig über das Leben, die ungelebten Leben und vor allem über Fragen, die heute nicht mehr zu beantworten sind. Fragen nach dem Was-Wäre-Wenn Schema. Es war das erste Gespräch dieser Art mit ihm; und ein wenig ungewohnt überhaupt einmal mit ihm alleine und vertraut miteinander zu sein. Ich beschränkte mich auf wenige Wort und war froh, dass ich, der ich mich heute einsam fühlte, einmal einem anderen lauschen konnte, statt mir und meinen eigenen Gedanken immer und unentwegt zuhören zu müssen. Er erzählte mir zunächst von einer Jugendliebe, bis ich ihn schließlich nach seinem Vater und meinem Opa Wilhelm fragte.

Mein Opa war kurz vor der Machtergreifung auf einem kleinen Hof, vielleicht fünfzig Kilometer entfernt meiner Heimat, geboren worden. Seine Mutter, meine Urgroßmutter, die ich nie kennenlernte, muss eine willensstarke Frau gewesen sein, entschied sie, ihn, den Sohn eines Landarbeiters, alleine großzuziehen, nicht zu heiraten. Als uneheliches Kind dürfte sein Leben zu dieser Zeit kein leichtes gewesen sein, der Vater vielleicht auch längst verschwunden. Ob vom Krieg verschluckt oder weitergezogen, weiß ich nicht. Ich vermute, dass mein Opa hart schuftete und ihm, trotz dessen, das Erbe des Hofs versagt blieb. Jahre später löste er sich dann, unklar ob etwas Bestimmtes vorgefallen war, und zog fort. Er lernte jemanden kennen, sie verlobten sich, ein erstes Kind war kurz darauf unterwegs. Doch etwas trieb sie auseinander. Was genau es war, kann heute keiner mehr so richtig sagen. Meine Mutter meint die Eltern der Frau seien gegen die Bindung gewesen, mein Onkel dagegen, sie wäre fortgezogen, meinen Opa hinter sich lassend. Der uneheliche Sohn meines Opas, und Halbbruder meiner Mutter und meines Onkels, wuchs selbst, ganz wie sein Vater, unter schwierigen Verhältnissen auf. Verschiedene Lebensgefährten der Mutter, die kamen und gingen. Schließlich, ein Stiefvater, mit dem er sich nicht verstand. Einige Jahre seines Lebens, heißt es, verbrachte er in Heimen. Irgendwann, mein Onkel bereits in seiner Jugend, tauchte er bei seinem Vater auf, der längst geheiratet und fünf weitere Kinder hatte. Mein Opa hatte all die Jahre von seinem ersten Sohn gewusst; und konnte oder wollte doch nicht für ihn da sein. Wieso genau, kann heute auch niemand mehr sagen. Mein Halbonkel starb früh, er hatte wohl viel getrunken und geraucht. Nach einem unglücklichen Leben klingt das. Mein Opa, das uneheliche Kind eines Landarbeiters, mit seinem eigenen unehelichen Kind. Er, der das selbst am eigenen Leib erfahren hatte und am Ende doch nichts hatte besser machen können. Wer weiß, welche Spuren das in ihm hinterlassen hatte, doch ist nicht zu vergessen, dass er ebenso Vater fünf weiterer Kinder gewesen war.

Während wir sprachen und erzählten, wanderte die Sonne stetig über uns hinweg. Als sie hinter den Hängen zu verschwinden drohte, war es Zeit für mich aufzubrechen. Ich verließ sie, meinen Onkel und Tante, und ihre Gastfreundschaft. Ihn, mit seinen Erinnerungen, sie, mit ihren steten Sorgen über den Alltag. Und ich selbst, ich trug an meiner Einsamkeit und dem neuen Wissen über meinen Opa. Und als ich dann aufbrach, alleine in den Sommerabend hinein, da hatte ich mir nichts sehnlichster gewünscht, als dass ich all das nun selbst jemandem hätte erzählen können. Ohne dass ich hätte sagen können, wieso mich das heute überhaupt interessierte. Diese alten Geschichten von Menschen, die längst gestorben sind. Ich weiß nicht aber vielleicht, weil ich in diesem Sommer selbst begonnen hatte, Dinge zu sehen, die ich früher gar nicht wahrgenommen hatte. Vielleicht hatte ich erst jetzt begriffen, dass Menschen tatsächlich Menschen sind, weil ich genau davor immer davongerannt war. Einfach, weil dann alles so viel leichter fällt, musste ich doch, selbst einsam genug, wenigstens nicht die der anderen mitansehen. Trotzdem aber fühlte es sich gut an, das Sehen zu lernen. Aber es fühlt sich nicht immer gut an, was man dann sieht. In den Menschen, und in der Welt.

Vielleicht werde ich demnächst einmal in die einstige Heimat meines Opas fahren. Ich werde dort am Ortsrand, vielleicht an einem kleinen Waldstück parken, oder, wenn es eine Kirche gibt vor ihr, und alleine durch diese Ortschaft längst vergangener Tage gehen. Ich weiß nicht, in welchem der wenigen Höfe er einst gelebt hat. Aber ich glaube, dass das auch gar nicht so wichtig ist. Ich werde mich einfach still umsehen, und ein wenig lauschen. Und wenn ich jetzt an die Geschichte, das Leben und die Orte meines Opas denke, frage ich mich, ob er nicht insgeheim ein einsamer Mensch gewesen ist. Einer, der die dunkle Seite des Mondes nicht nur gespürt, sondern auch gesehen hatte. Schon allein, weil er von ihr wusste, und sie verstand.

2020/05/17
Die dunkle Seite des Mondes (German Writing)
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